Wie fast alle Trends jener Jahre kamen die nach dem Glied einer Schwimmbrücke benannten Pontonformen aus den USA. Erstmals in Deutschland eingeführt hatte sie der Bremer Autobauer Borgward, dessen große Limousinen zu den wichtigsten Herausforderern der Stuttgarter Sternträger zählten. Charakteristisch für die neue Karosserie-Couture waren voll integrierte Kotflügel und die jeweils quaderförmig angelegten Fahrzeugteile Vorderwagen, Passagierabteil und Heck mit integriertem Gepäckraum. Vorbei die Vorkriegsära freistehender Kotflügel und angesetzt wirkender Kofferkästen wie bei Mercedes zuletzt mit dem Modell 170. Stattdessen brachte der Typ 180 die neuen Linien so gut in Form, dass er als später als sogenannter Ponton-Mercedes zum Prototypen der ganzen Designepoche erklärt wurde.
Der erste „Erlkönig“
Zugleich hatte der Mercedes 180 als Vorserien-Prototyp auf Testfahrt schon ganz andere Schlagzeilen gemacht als erster Erlkönig der Automobilgeschichte. Möglich wurde dies durch die Veröffentlichung von Pressefotos des getarnten Mercedes mit einem Bildtext aus adaptierten Passagen von Goethes Erlkönig-Gedicht. Für alle Autohersteller Anlass, fortan die Formen neuer Fahrzeuge phantasievoll zu tarnen und so den Fotoreportern die Enthüllung der Erlkönige zu erschweren.
Dabei hatte Mercedes die vorzeitige Enttarnung des Modells 180 vor allem Vorteile gebracht. Die konservativen Stammkunden wurden gewarnt vor der anstehenden Design-Revolution – dennoch wurde der Vorkriegstyp 170 vorerst parallel im Angebot gelassen – während Presse und Öffentlichkeit der Premiere der neuen Ponton-Modelle geradezu entgegen fieberten.
Plattform-Strategie
Tatsächlich wurden die Vierzylinder-Benziner und -Diesel als Mercedes 180 und leistungsstärkerer Typ 190 mit mehr als 440.000 Fahrzeugen in rund zehnjähriger Produktionszeit die bis dahin erfolgreichste Mercedes-Reihe. Mehr als das: Die intern W120/121 genannte Reihe legte die Grundlage zu einem regelrechten Baukastensystem, wurden von ihr doch eine Vielzahl weiterer Typen abgeleitet. Darunter sogar die S-Klasse-Modelle 220 S und SE sowie der Roadster 190 SL.
An Innovationen mangelte es den neuen Volumenmodellen im Zeichen des Sterns also nicht – sogar eine Frühform von Béla Barényis 1952 patentierter Knautschzone hatte der Ponton-Benz mittels weicherer Front- und Heckpartien der Karosserie. Unter dem Slogan „Wenn Sie ganz sicher sein wollen...“ stellte Mercedes in einer Anzeigenreihe zudem die „schutzbietende Rahmenbodenanlage“ der Tür eines Tresors gleich.
Zäh, aber langlebig
Was den damals stattliche 4,49 Meter langen Modemachern anfangs jedoch fehlte, war eine frische Motorengeneration. Die seitengesteuerten Vierzylinder aus dem Vorgänger-Typ 170 waren noch Vorkriegskonstruktionen, von eher zäher Leistungsentfaltung, aber langlebig und robust. Besonders der Diesel, der beim frühmorgendlichen Kaltstart die Nachbarschaft in weiterem Umkreis aus dem Bett holte, erzielte Laufleistungen von bis zu einer Million Kilometer. In einer Zeit, als Hersteller ihre Kunden schon beim Erreichen der 75 oder 100.000-Kilometer-Marke mit goldenen Uhren oder anderen Auszeichnungen ehrten, galten der 180 D und sein ab 1958 lieferbarer größerer Bruder 190 D mit neuem Hängeventil-Selbstzünder deshalb als unzerstörbare Langstreckenläufer, die sogar für weitere Überraschungen gut waren.
- Chronik
- Wichtige Motorisierungen
- Ausgewählte Preise
1953: Im Juli Serienanlauf des Mercedes-Benz 180 (W120) als Nachfolger des Typs 170 Sb, aber noch mit dem 1,8-Liter-Benziner des Vorgängers. Markteinführung im September. Im Oktober Vorserie von 11 Einheiten des Mercedes 180 D
1954: Im Februar Präsentation des Mercedes 180 D mit 1,8-Liter-Diesel aus dem Vorgänger
1955: Leistungssteigerung des Diesels von 40 auf 43 PS. Im September Produktionsauslauf des Ponton-Vorgängers Mercedes-Benz 170
1956: Im Mai wird der Mercedes 190 als Spitzenmodell der Stuttgarter Mittelklasse vorgestellt mit neuem 1,9-Liter-Motor mit 75 PS Leistung. Ein gedrosseltes Triebwerk, das zuvor im 105 PS starken Sportwagen 190 SL debütierte. Dazu optische Modifikationen wie breiterer Kühlergrill, größere Rückleuchten, zusätzliche Zierleisten und Ausstellfenster in den Vordertüren. Neue Eingelenk-Pendelachse für bessere Fahreigenschaften. Für Südafrika und Südamerika wird eine Pickup-Version aufgelegt
1957: Im Juli Serienstart des 180a mit auf 65 PS leistungsreduziertem Motor aus dem Typ 190. Auch die optischen Besonderheiten des Modells 190 werden übernommen – bis auf die Ausstellfenster
1958: Im August wird der Mercedes 190 D eingeführt mit neuem, 50 PS starkem 1,9-Liter-Diesel. Mercedes 180a nun auch mit vorderen Ausstellfenstern. Autotelefon als Extra ist für die Ponton-Mercedes bestellbar
1959: Auf der Frankfurter IAA debütieren die Mercedes 180/190 in überarbeiteter Form mit dem internen Kennbuchstaben b (180b und 190b). Der Mercedes 180 verfügt nun über 80 PS Leistung und die Bremsanlage aus dem größeren 190. Alle Modelle mit breiterem Kühlergrill und ohne vordere Stoßstangenhörner
1961: Im Frühling wird der Mercedes 190 ersetzt durch den gleichnamigen Nachfolger (Serie W110) mit Heckflosse. Insgesamt wurden gebaut: 190 in 61.345 Einheiten, 190b in 28.463 Einheiten, 190D in 20.629 Einheiten, 190Db in 61.309 Einheiten. Der Mercedes 180 (interner Kennbuchstabe jetzt „c“) erhält als Diesel ein Zwei-Liter-Aggregat mit 48 PS und als Benziner eine Leistungssteigerung auf 68 PS
1962: Im Oktober Produktionsende für den Mercedes 180 (als 180 insgesamt 52.186 Einheiten, als 180a 27.353 Einheiten, als 180b 29.415 Einheiten, als 180c 9.280 Einheiten; als 180 D insgesamt 116.485 Einheiten, als 180 D(b) 24.676 Einheiten, als 180 Dc 11.822 Einheiten)
Typ 180: 1,8-Liter-(38 kW/52 PS)-Vierzylinder-Benziner
Typ 180 (a): 1,9-Liter-(48 kW/65 PS)-Vierzylinder-Benziner
Typ 180 (b/c): 1,9-Liter-(50 kW/68PS)-Vierzylinder-Benziner
Typ 180 D: 1,8-Liter-(29 kW/40 PS bzw. 32 kW/43 PS)-Vierzylinder-Diesel
Typ 180 D (c): 2,0-Liter-(35 kW/48 PS)-Vierzylinder-Diesel
Typ 190: 1,9-Liter-(55 kW/75 PS bzw. 59 kW/80 PS)-Vierzylinder-Benziner
Typ 190 D: 1,9-Liter-(37 kW/50 PS)-Vierzylinder-Diesel
Mercedes-Benz 180 (1953): ab 9.950 Mark
Mercedes-Benz 180 (1954): ab 9.450 Mark
Mercedes-Benz 180 D (1954): ab 10.300 Mark
Mercedes-Benz 180 (1956): ab 8.760 Mark
Mercedes-Benz 180 D (1956): ab 9.450 Mark
Mercedes-Benz 190 (1956): ab 9.650 Mark
Mercedes-Benz 190 D (1956): ab 9.950 Mark
Mercedes-Benz 180 (1962): ab 9.350 Mark
Mercedes-Benz 180 D (1962): ab 9.850 Mark
Mercedes-Benz 190 (1958): ab 9.650 Mark
Mercedes-Benz 180 Kombi Miesen (1960): ab 13.220 Mark
Mercedes-Benz 180 Kombi Binz (1960): ab 12.000 Mark
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Mit Anfangs 40 PS Leistung (180 D) und später als 190 D maximal 50 PS stark, erreichten die Diesel nur beschauliche Vmax-Werte zwischen 112 beziehungsweise 126 km/h, die Beschleunigung aus dem Stand auf Tempo 100 dauerte die scheinbare Ewigkeit von 39 beziehungsweise 29 Sekunden (Typ 190 D). Trotzdem gelang den Selbstzündern ein rekordverdächtiger motorsportlicher Triumph: Bei der Mille Miglia 1955 belegten Mercedes 180 D die drei ersten Plätze ihrer Klasse. Das Siegerteam aus Helmut Retter und Walter Larcher fuhr seinen 180 D mit einem unglaublichen Schnitt von 94,645 km/h über die Ziellinie und lag nach rund 17 Stunden nur sieben Stunden hinter Stirling Moss und Denis Jenkinson auf der Vmax-Ikone 300 SLR.
Hamburg-Basel zu fünft für 6,10 DM
Immerhin verblüfften die Diesel auch im Alltag mit relativ großem Durchzugsvermögen schon bei niedrigen Geschwindigkeiten und waren deshalb nicht nur im Taxigewerbe beliebt. „Große Fahrt mit kleinen Kosten“ überschrieb Mercedes 1955 eine Anzeige, in der die Reisequalitäten des Selbstzünders herausgestellt wurden. „Fünf Personen reisen in dem bequemen Typ 180 D für nur je DM 6,10 von Hamburg nach Basel“. Tatsächlich hätte die über 800 Kilometer lange Strecke damals kein anderer Fünfsitzer billiger absolvieren können.
Allein alle Steigungen galt es stets mit Schwung zu nehmen, daran änderte auch der stärkere 190 D wenig. Wirklich temperamentvoll waren nur die 190 Benziner, die 1956 eingeführt wurden und mit einem modernen 1,9-Liter-Motor mit kettengetriebener, obenliegender Nockenwelle aus dem 105 PS freisetzenden Roadster 190 SL aufwarteten. Mit nur einem Registervergaser und durch geringere Verdichtung gedrosselt auf 75 PS (ab 1959 sogar 80 PS) zählten die Stuttgarter Sternträger mit bis zu 144 km/h noch immer zu den schnellsten Limousinen auf der Überholspur deutscher Autobahnen. Passend dazu gab es auf der langen Liste der Extras für den 190 eine Hupe mit Zusatzfanfaren und den „Fernlichtsignalgeber“, also eine automatische Lichthupe, die von verscheuchten Opel- oder Ford-Fahrern auch „Rüpel-Relais“ genannt wurde.
Starke Gegner: Borgward Isabella und Citroën DS
Tatsächlich konnten in der gehobenen Mittelklasse nur Borgward Isabella TS und damals noch exotische Importmodelle wie Citroën DS dem Benz davon fahren. Nur dieser bot jedoch Oberklasse-Extras wie sie Direktoren und erfolgreiche Unternehmer liebten. Darunter ein astronomisch teures Autotelefon, Standartenhalter, Schlummerrollen als Kopfstützen oder als Bett nutzbare Ruhesitze und Sonderlackierungen – Extras, die teilweise eigentlich für die S-Klasse gedacht waren, aber auch Kundenwünsche beim Typ 190 erfüllten.
Zu den Spezialitäten der ersten Stuttgarter Nachkriegssterne zählten auch Karosserieaufbauten als Kombi und Pickup (für Südafrika und Südamerika) sowie als Krankenwagen und Bestattungsfahrzeuge. Dafür hatte Mercedes sogenannte Fahrgestelle im Lieferprogramm, die bis zum Fahrersitz karossiert waren und von Firmen wie Binz und Miesen eingekleidet wurden. Regelmäßige Modellpflegen mit stetig mehr Leistung, Luxus, Chrom und breiteren Kühlermasken hielten die Baureihe W120/121 bis zu Beginn der 1960er Jahre frisch. Dann übernahmen die deutlich opulenter dimensionierten Limousinen mit Heckflossen das Zepter. Die Ära der klaren Pontonform ging zu Ende und geriet allmählich in Vergessenheit. Hätte es nicht die Mercedes 180/190 als wichtigste Protagonisten und langlebigste aller deutschen Pontonmodelle gegeben. (mh/sp-x)