Introvertierte Kunden sollten von „Sao Paulo Lime“ besser Abstand nehmen. Denn mit dem Textmarker-farbenen Genesis GV60 fällt man auf. Überall und jederzeit. Ein Stück weit ist das aber auch Werbung in eigener Sache – vor allem für das bis zu 490 PS starke Top-Modell Genesis GV60 Sport Plus (Stromverbrauch kombiniert: 19,1 kWh/100 km; CO2-Emissionen kombiniert: 0 g/km; elektrische Reichweite: bis zu 466 km)². Doch es ist weit mehr als Effekthascherei, das hinter der auffälligen Lackierung steckt. Im Test beeindruckt das koreanische E-Crossover vor allem durch die Talente im Alltag.
Nach dem Türöffnen ist es zunächst das handschuhweiche Leder, das begeistert. Nicht nur die Sitze, auch Armaturentafel, Türbrüstungen, ja sogar der Dachhimmel ist in edlem Material tapeziert. Dabei sind es auch Details wie „Lime Green“-gefärbte Akzente an Kedern und hinter der Perforierung, die von der besonderen Liebe der Koreaner zu ihrem neuen Produkt zeugen. Auch die gelaserten Edelstahl-Lautsprecherabdeckungen des Bang & Olufsen-Soundsystems sind nichts, was man in dieser Fahrzeugklasse erwarten würde. Denn wir sprechen nicht von einer sechsstellig bepreisten Luxuslimousine (wie dem Rolls-Royce Ghost), sondern von einem margenschwachen Elektroauto.
Aber Genesis gibt sich hier tatsächlich sichtbar Mühe – und wird dafür entlohnt. Wo bei der Konkurrenz seit Jahren die Qualität sinkt, begeistert der GV60 positiv. Nicht nur in Sachen Materialauswahl und Verarbeitung, sondern überhaupt im gesamten Arrangement des Innenraums. Das durchgehende Digital-Cockpit könnte zwar mit etwas einfacherer Menüstruktur aufwarten, doch es gibt für Klima, Radio und alle anderen wichtigen Funktionen weiterhin physische Tasten. Dennoch wirkt der Innenraum frisch und modern. Genesis hat hier einen guten Kompromiss gewählt.
Auch in Sachen Platzangebot spielt der GV60 Sport Plus die Vorteile seiner E-GMP-Basis aus. Wie auch im Ioniq 5 gibt es im Inneren viel Bewegungsfreiheit und weitreichende Verstellmöglichkeiten der vorderen Sitzreihe – was gerade im Fond je nach Bedarf für üppige Kniefreiheit sorgt. Die Sitze sind überdies mehr als komfortabel und selbstredend beheiz- und belüftbar für Fahrer und Beifahrer. Einziges Manko bleibt der Kofferraum: Mit 432 Litern bietet der kleine Genesis hier eher wenig Stauraum an und auch der Frunk unter der vorderen Haube taugt für wenig mehr als das Typ 2-Ladekabel.
Am Exterieur greift der GV60 viele Stilelemente anderer Genesis-Modelle auf, verzichtet allerdings auf den großen trapezförmigen Kühlergrill, der sich bei den Geschwistern zwischen den zweizeiligen LED-Scheinwerfern erstreckt. Mit Blick auf die, für die Reichweite wichtige Aerodynamik, setzt er stattdessen auf einen schlankeren unteren Lufteinlass mit Wabengitter-Design und eine perfekt geglättete Nase.
In der Seitenlinie bleiben die Linien des Genesis GV60 ebenfalls geschmeidig, wenn auch die Schulterlinie und die Kotflügel sichtbar ausgearbeitet sind – schließlich gilt es in der Sport Plus-Ausstattung üppige 21-Zoll-Leichtmetallfelgen unterzubringen. Ein eigenwilliges Detail bildet die gezackte Fensterschachtleiste, die den integrierten Dachspoiler stilisiert und den Übergang ins Heck optisch auflockern soll.
Insgesamt ist das Design des kleinen Genesis geschickt, gerade auf Bildern erkennt man seine Größe kaum. Doch mit einer Höhe von 1,60 Metern ist er ein objektiv großes Fahrzeug. Die stark abfallende Dachlinie macht das E-Crossover allerdings gerade im Bereich des Kofferraums kleiner als nötig. Hier wäre eine Shooting Brake-Variante sicher praktischer – und eine solche dürfte vor allem in Europa durchaus ihre Fans finden.
Vergessen sind Dinge wie Design und Kofferraumvolumen aber, wenn man das erste Mal richtig Strom gegeben hat. Der leuchtend-gelbe Boost-Knopf am Lenkrad setzt alle 490 PS und die vollen 700 Newtonmeter beider Motoren in Gang und der Genesis GV60 katapultiert sich ansatzlos gen Horizont. Das Werk gibt für den 100er-Sprint eine Zeit von glatt vier Sekunden an, dies erscheint uns sogar konservativ, denn in der Handstoppung schaffte es der gelbe Stromer meist in unter vier Sekunden.
Doch es geht natürlich um mehr, als nur um bloße Geradeausfahrt. Dank eines elektrischen Sperrdifferenzials an beiden Achsen macht der GV 60 Sport Plus seine Sache auch in der Kurve gut. Grober Stromeinsatz im Scheitel wird von den Michelin Pilot Sport EV in 255er-Breite souverän pariert und das Torque Vectoring reißt den Genesis förmlich aus der Kurve. Der Koreaner liegt hier deutlich näher an einem Porsche Taycan, als an einem Sportmodell des VW MEB-Baukastens. Die Balance des Antriebs ist wirklich bemerkenswert und vor allem in Kombination mit der Fahrwerksabstimmung ein echtes Highlight.
Denn auch in Sachen Feder- und Dämpferabstimmung ist der Genesis GV60 Sport Plus ein Alleskönner. Das Adaptivfahrwerk hat nicht nur einen weiten Verstellbereich zwischen Komfort und Sport, er passt sich mittels Frontkamera auch aktiv an kommende Verwerfungen der Fahrbahn an. Solche Details waren vor wenigen Jahren noch eine Sensation im Luxus-Segment.
Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Das gilt auch für die Batterie-elektrische Fahrzeug. Und wer die 490 PS regelmäßig nutzt, der muss trotz sehr guter Rekuperationsleistung relativ häufig an die Ladesäule. Wir kamen im Schnitt auf einen Verbrauch von guten 22 kWh auf 100 Kilometer, es können aber auch schnell fast 30 kWh werden, wenn man auf der Autobahn unterwegs ist. Immerhin: Dank der 800V-Architektur und Ladeleistungen von bis zu 240 Kilowatt ist der Genesis GV60 in aller Regel zügig wieder vollgeladen.
Der Genesis GV60 Sport Plus ist ein sehr talentierter Allrounder. Sein Exterieur-Design muss man mögen, im Innenraum gibt er hingegen nicht nur wenig Anlass zur Kritik, sondern eher Grund zum Staunen. Die Spreizung zwischen feinem Komfort und spitzer Dynamik gelingt in dieser Spannweite derzeit kaum einem Konkurrenten – zumal nicht zu diesem Preis. Mit fast 80.000 Euro ist er allerdings auch kein Sonderangebot mehr, bleibt aber dennoch weit unter gleichwertigen Konkurrenten. (Text und Bilder: Fabian Mechtel)
*Herstellerangaben